Bericht Opernreise Chemnitz

Eindrücke von unserer Reise nach Chemnitz vom 28.10.-01.11.2021

Ein Dutzend Wagnerianer machte sich am Freitag morgen frohgelaunt und erwartungsfreudig mit Gruppen-Bahnticket im vollen Zug auf den Weg nach Chemnitz. Bretzeln und Prosecco stärkte die Gruppe für das Kommende. Beim verspätungsbedingt ungeplant hektischen Umstieg in den proppevollen Regionalzug in Leipzig wurde die Truppe versprengt.

Am Hauptbahnhof Chemnitz war die Tramlinie 4 eine kluge Wahl zum neu wirkenden B&B Hotel in der Zwickauer Strasse 13. Erster Einheimischen-Kontakt an der Rezeption auf sächsisch: „Wer frühstückt wann? Moment, ni alle uff eenmol“. Gemäß Reiseplan um 18h Aufbruch zum Erkundungsgang ins berühmte Kaßberg-Viertel mit den Jugendstil-Häusern und Majolika- Fassaden. Es dunkelte und die Fassaden auch.

Die Suche nach dem unter Mühen gebuchten Restaurant gestaltete sich mehr und mehr als romantische Laub- und Nachtwanderung mit nicht immer gewisser Zielrichtung. Wild aussehende Jugendliche sind unterwegs. Ach ja, wir haben bald Halloween…

Glücklich nach eineinhalb Stunden strammen Fußmarsches vorbei am Milchhäuschen erscheinen am Schlossteich unzählige einladende Laternen und Fachwerkhäuschen. Wir sind im Schlossviertel, dem ältesten Teil der Stadt. Eine lockende Gastwirtschaft an der anderen.

Am Tagesziel: Gasthaus an der Schlossmühle. Wernesgrüner Bier, feine Scheurebe, herzhafte Rouladen, Entenbeine und Fische vom Schwarzen Heilbutt bis gebackenem Karpfen munden dem fröhlichen Völkchen.

Eine spontane wagnerverbandsbezogene Vorstellungsrunde eröffnet neue Erkenntnisse und befeuert die allseitige Heiterkeit. Als letzte Gäste verlassen die gesitteten Zecher den wohligen Ort im 2. Stock.

Die Hälfte fährt mit Glück per Taxi zurück, sieben stapfen tapfer an der Chemnitz entlang durch die laue Nacht hinter Dr. Matthias Lachenmann her und landen direkt vor dem Hotel. Angekommen: in Chemnitz und im Hotel. Und im Raum-Spar-Bett.

Tag zwei startet mit viel Sonnenschein und per Tram zur berühmten Villa des Textilmagnaten und Strumpfherstellers Herbert Esche. Damals hieß es: „Die Welt auf Chemnitzer Strümpfen“. Die Villa ein gelber Prachtbau in herrlichem Jugendstil, ein Gesamtkunstwerk, entworfen und total durchdesignt bis auf die Einrichtung vom belgischen Maler Henry van de Velde. Riesenräume, ja Hallen, kein Wunder immer kalt. Ein Bau mit Geschichte,  vom Traumhaus eines avantgardistischen Industriebarons über russische Kommandantur bis Stasi-Domizil.

Hier wurde mit anderen Industriebossen bei Caviar und Wagner-Musik getafelt und gefeiert, wie z.B. dem Maschinenfabrikanten und Eisenbahnbaron Hartmann. Wenn sie geahnt hätten…Die florale Jugendstil-Glasdecke wurde dann wohl aus Übermut von russischen Offizieren schon mal zerschossen…

Auf zum nächsten Höhepunkt am Marktplatz: Stadtführung mit kecker „vichilanter“ Vollsächsin. Vorher aber noch kurz ins italienische Cafe. Das neue Rathaus sieht alt aus, das ältere ist ganz neu… 85 Prozent der Gebäude wurden im Krieg zerstört. So tummelt sich im Zentrum ein Sammelsurium an Baustilen, vom barocken rosanen Siegertschen Haus über „Ost-Moderne“ der DDR-Zeit bis Nachwende-Kaufhausbauten. An der Jacobi-„Kirsche“ vorbei zum Roten Turm und weiter zum großen Stolz der Stadt, die Stadthalle… ein eigenwilliger Mix von Ost-„Arschitektur“, ein wahrlich spezielles „Angsambel“. Immer wieder schräg gestylte Jugendliche.

Auf in den Bus zum Aufwärmen und zur kurzweiligen Stadtrundfahrt. Karl Marx grüßt mit 7 Meter hohem und 40 Tonnen schwerem Bronze-Kopf vom Riesensockel (gesamt 13m) seine ehemalige Karl- Marx-Stadt. In der er übrigens selber nie gewesen ist. Die hatte vor dem Krieg ca. 630 000, heute nur noch ca. 244.000 Einwohner, ein Drittel ging nach der Wende verloren. Davon zeugt ein unglaublich hoher Leerstand an Wohnungen. Ein paar Rentner kriegt Chemnitz zurück.

Es geht weiter vorbei an den ehemals jüdischen Kaufhäusern Tietz und Schocken, den Majolikahäusern bei Tag, Theaterplatz, Uni-Bibliothek in alter Fabrik, Museen, Messe, und und und. Und überall der passende „Arschitekt“ dazu. Das macht müde. Jetzt ins Cafe oder ins Hotel? Cafe Moskau hat zu. Taxi? Keine Chance… So kommt man auf über 15.000 Schritte am Tag…

17.30 Treffpunkt Grieche. Volles Haus, Ouzo satt, Service und Gerichte super. Es pressiert: Flotter Fußmarsch zur Markus-Kirche, ein Konzert. Es gibt was Jüdisches. „Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu erzählen“. Halbe Stunde der Weg dahin… es zieht sich.

Was für eine Überraschung: Die Schauspieler-Grössen Gesine Cukrowski und Christian Brückner lesen berührend brillant jüdische Schicksale. Das Jewesh Chamber Orchestra Munich mit dem exzellenten Cellisten Wen-Sinn Yang spielt einfühlsam und melancholisch im vorweihnachtlich wirkenden Ziegelbau Robert Schumann, Mieczyslaw Weinberg, Alexander Kneifer, David Popper, Leone Sinigaglia und Leo Weiner. Nix Klezmer-Musik wie vermutet. Anlässlich des 125. Jubiläums der Volksbühnen-Bewegung ein großartig stimmig sinnliches, völlig unerwartetes Erlebnis der besonderen Art. Andächtige Begeisterung.

Zwölf Menschen in kalter Nacht suchen einen warmen gastlichen Ort. Und finden das lässige Bistro-Lokal Alex am Neuen Markt. Ob unser ehemaliger Stipendiat Alexander Kiechle morgen singen kann oder vielleicht doch nicht? … Kaltgetränke finden zufrieden ermattete Abnehmer und die Drinks helfen, das höhepunktreiche Tagesprogramm zu feiern und das Übermaß an Informationen zu reduzieren. Eindrücke ohne Ende. Ein paar wollen noch bleiben.

Tag drei ist die Uhr zurückgestellt und es macht vormittags jeder, was er will.

Ein 8-köpfiger Trupp zieht bei herrlicher Sonne zum imposanten Industriemuseum in der Zwickauer Straße einiges weiter oben. Alles, was ein moderner Industriestandort vor 100 Jahren bieten konnte, gab es in Chemnitz. Zum Beispiel eine 6-stöckige Hochgarage, weil die Parkplätze knapp waren! Sachsen war Auto-Region, Horch, DKW, Wanderer, natürlich Trabi, auch Fahrräder und MZ-Motorräder. Gewaltige Zeugen der bedeutenden Bergbau- und Industrie-Region… wie eine Riesendampfmaschine, Webstühle und Webmaschinen, eine Menge an Erfindungen und monströse Beispiele für den berühmten Sachsen-Guss. Dazu High-Tech von heute, wie 3D-Druck und mehr.

Appetit und Durst. Zu früh. Museumsrestaurant „is no ni zwelfe“, Cafe Kohlebunker „is o no ni“. Heißer Tip… auf zur Schenke „Onkel Franz“ auf den Kaßberg. Empfang mit dem inzwischen als typisch einzuordnenden chemnitzer Charme: „Se sind ja so viele! Geht gor ni, Se hom ja ni reserviert“… und es geht dann doch und schmeckt allen draußen in der Sonne. Zuerst ist er kratzig, aber dann wird der Chemnitzer doch ganz umgänglich.

Museum Gunzenhauser, noch ein schnelles Muss, schließlich gleich vor der Hoteltüre. Wieder Kratzbürsten-Charme, jeder muss Corona-Zettel ausfüllen… „Se sin do ni eene Familje, oder heeßen Se olle gleich“… schneller Ritt durch drei Stockwerke Kunst um 1900, vorbei an Kokoschka, Beckmann und Co und dann eine ganze Etage Otto Dix mit eindrucksvollen Selbstporträts und Landschaftsbildern. Unten eine Sonderausstellung zum Thema „Schwarz“, mit dabei Richard Serra, Willi Baumeister, Arnulf Rainer, das Ehepaar Becher und mehr. Und mehr geht jetzt wirklich nicht mehr.

Denn die Oper ruft mit Tristan und Isolde, dem Anlass und Highlight der Wagner-Reise. Praktisch – die inkludierte Fahrkarte. Alle sehen schick aus und es geht mit unserer Linie 4 zum Theaterplatz. „Wären Sie so freundlich und machen von unserer Gruppe ein Foto, junger Mann?“ „Nein!“ „Wie bitte?“ Aber dann macht Mama doch welche. Wieder mal typisch chemnitzerisch… Doch was für ein Theaterbau, was für ein eleganter Platz und was für ein schickes Ambiente! Coronagerechte Sitzbelegung und es geht los!

Der Tristan alias Daniel Kirch und unser Ex-Stipendiat Alexander Kiechle als markanter König Marke sind etwas indisponiert. Macht nix, Hauptsache er ist dabei. Eine gewichtige Isolde, diese Stephanie Müther, für deren Stimme das Haus fast zu klein wirkt und die nachher gar nicht stirbt. Die Brangäne rundum großartig, der Tristan behauptet sich selbst in Jogginghose, das Orchester spielt grandios. Und die Souffleuse hört man nach der ersten Pause nicht mehr.

Zeit für Stärkung mit Prosecco und Theater-Bretzeln. Ein toller Balkon, der Platz in buntem Licht ein Gedicht! Die Inszenierung ist strittig, wie die Liebesnacht im Büro unseres König Marke, über die musikalische Leistung besteht jedoch unisono Begeisterung. Bravo und großer Applaus, vor allem für Alexander.

Wir passen unseren persönlichen Star am Bühneneingang ab und unsere 1. Vorsitzende voran ist mit allen anderen überglücklich. Er war ja auch klasse.

Gegenüber ins Hotel an der Oper zu Sekt und gepflegtem After-Dinner an langer Tafel im separaten Restaurantbereich. Die angereiste ulmer Wagner-Familie gratuliert und beglückwünscht den richtig sympathischen jungen Bass, feiert immer wieder seinen Auftritt und verdrückt ein allseits mundendes 3-Gänge-Menue mit rosa Lammrücken vom Grill oder auf der Haut gebratenem Sailbingsfilet mit Rot-Bete-Risotto. Den lauwarmen Schokokuchen schaffen nicht mehr alle.

Was für ein spannender Opernabend! Morgen gibts Othello. Und 2025 wird Leipzig Europas Kulturhauptstadt! Wir waren auf alle Fälle schon mal da, als Trend-Scouts quasi und kulturelle Avantgarde.

Plötzlich ist November. Am Montag, den 1. gehts zurück. Allerheiligen. Jetzt, wo man sich etwas auskennt und mit der zunächst forschen chemnitzer Dienstleistungs- und Service-Abwehr vertraut ist.

Eine interessante Erfahrung und Überraschung, dieses Chemnitz. Viel dahinter und noch ganz schön viel vor. Wir drücken der Stadt die Daumen und mancher kommt wieder, irgendwann! Schließlich wartet noch einiges auf Erkundung, wie der Neo Rauch im Neuen Rathaus oder die fast 100 Jahre alte PKW-Hochgarage. Und die ganze Umgebung.

Hatte man vor ein paar Tagen noch kein Bild im Kopf, so sind sich jetzt alle einig: Chemnitz mit seinen vielen Brüchen ist eine Reise wert und diese unsere ist unvergesslich.

Ein herzliches Dankeschön an die Organisatoren. Wir werden uns gerne erinnern.

Christina Biber-Hörger