Bericht Lesung Hans-Jürgen Schatz

Der kleine Grenzverkehr von Erich Kästner
Hauptfigur und Ich-Erzähler der Geschichte ist Georg Rentmeister. Georg ist zusammen mit seinem Bruder Erbe einer sehr ertragreichen Zink-Badewannen-Fabrik, die sein Bruder führt. Georg ist Schriftsteller und verfügt in seinem Domizil in Berlin über fünf Arbeitszimmer für jedes einzelne Thema, mit dem er sich auseinandersetzt, aber nie zum Abschluss kommt. Er beschäftigt sich mit dem Konjunktiv, der Antike und dem Christentum, der Stenographie und weiteren Themen, die uns nicht bekannt sind. So wird Georg „Doktor Fäustchen“ genannt. Sein Bruder zahlt ihm als Lebensunterhalt jeden Betrag unter der Bedingung, dass sich Georg von dem blühenden Unternehmen fern hält.
Die Geschichte spielt im August 1937 während der Salzburger Festspiele.
Ich zitiere aus dem Cover des im Atrium Verlag Zürich editierten Buches. Erstveröffentlichung 1938, 3. Auflage 2020:
„Eine rasante Liebesgeschichte vor Salzburger Kulisse
1937: Der junge Schriftsteller Georg aus Berlin bekommt eine Einladung zu den Salzburger Festspielen. Zugleich verweigern ihm die Behörden aber die Devisen. Georg quartiert sich daraufhin in Bad Reichenhall ein, um auf dem Weg des kleinen Grenzverkehrs in den ersehnten Kunstgenuss zu kommen. Schon bald steckt er in Schwierigkeiten, doch dann eilt ihm eine junge Dame u Hilfe…“
Wenn Georg auch keine Zeile veröffentlicht, ist er in Liebesdingen durchaus erfolgreich. Er gewinnt nicht nur als Retterin in finanzieller Not mangels der in Salzburg benötigten Schillinge und Kronen die schöne und charmante Konstanze, seine spätere Verlobte und einen Spross adliger Herkunft, was sich jedoch wegen des „Spieles im Schloss“ erst später herausstellt.
Und Kästner erfreut auch den Leser mit einigen Beobachtungen über das Salzburger Festspielpublikum, die wir als RWV-Mitglieder durchaus auch auf Bayreuth übertagen können.
Der Autor Kästner alias Georg:
Warum spielt man eigentlich Goethes „klassischen“ Faust, warum nicht seinen Urfaust oder das alte Faustspiel? Ein Gespräch, das ich in der Pause hörte, erklärt, was ich meine. In dem Gewühl von Nerz- und Zobelpelzen Maharadschas, Fracks, Brillanten und Uniformen trafen sich eine Amerikanerin und ein Amerikaner. Sie tauschten ihre Eindrücke aus. „Do you understand a word?“ fragte sie. Und er antwortete: „No.“
Und:
In Salzburg dürfen ja auch die Zuschauer Theater spielen.
Und:
Die Einheimischen standen trotz der „Witterungseinflüsse“ wie die Mauern und bestaunten, heute wie jeden Abend, das Schauspiel vor dem Theater, das Anrollen der Autos, das Aussteigen der in Pelz gehüllten Damen, das hilfreiche Benehmen der Herren, den Transport der Kulissen und was sich sonst dem Auge bot.
Oder:
Den Beschluss bildete die „Linzer Symphonie“. Der Saal war leider mäßig besucht. Dafür waren aber unter den Zuhörern keiner jener Banausen, die sich etwa an der Theaterkasse erkundigen, ob den „Jedermann“ der Maestro Toscanini dirigiere. Nein, die Künstler und ihr Publikum waren in guter Gesellschaft:
Insoweit ist also mit dem Keinen Grenzverkehr auch ein Schulterschluss zu den Bayreuther Festspielen geschafft und Viola Lachenmann hatte somit einen guten Grund, den exzellenten Vorleser und Rezitator Hans-Jürgen Schatz mit Kästners schwungvoller und amüsanter Geschichte nach Ulm zu bitten.
Hans-Jürgen Schatz ist mit seiner schauspielerischen Begabung in die Rolle des Georg geschlüpft. Dank seiner ausgeprägten Mimik und Gestik und der großartigen Modulation seiner Stimme konnten wir zuhörend in unserer Fantasie die vorgetragene Geschichte als Schauspiel oder als Film wahrnehmen.
Ich habe den Kleinen Grenzverkehr in Vorbereitung des Treffens am 13. November gelesen. Dies war schon ein Vergnügen. Vorgelesen von Hans-Jürgen Schatz war das Buch für alle Anwesenden wie auch für mich das größte Vergnügen. Beim Vorlesen, also zuhörend kommen Text und der von Kästner gewählte Sprachstil in besonderer Weise zum Ausdruck und beweisen die literarische Qualität dieses Buches.
In seiner Vorrede charakterisierte Schatz den Kleinen Grenzverkehr als eine Schilderung von Situationen, die echte Cliffhanger seien.
Was bedeutet nun Cliffhanger in einem Buch haben sich sicher viele der Teilnehmer gefragt. Google gibt Auskunft: „Als Cliffhanger, vereinzelt auch Spannungsaufhänger, wird das Abbrechen der Handlung an der spannendsten Stelle bezeichnet. Dieses Mittel kommt in der Literatur und im Film vor und dient der Kundenbindung. Will man wissen, wie es weitergeht, muss man auf die Fortsetzung warten. „ Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Lesung war ausgesprochen kurzweilig und Hans-Jürgen Schatz hielt mit seinem exzellenten Vortrag seine Zuhörer über die gesamte Zeit in hoher Konzentration und bei bester Aufnahmefähigkeit. Müdigkeit und mit den Gedanken woanders Sein gab es nicht. Mit Dankbarkeit für seinen Besuch in Ulm erinnern wir uns gerne an die Lesung und bringen Hans-Jürgen Schatz große Wertschätzung entgegen.

Klaus Junken
Neu-Ulm, 19. Januar 2022